Künstler hatten geschriebene Geschichte zu bebildern und waren die
Kulissenmaler für die Bühne der herkömmlichen Weltgeschichte.
Sie malten und zeichneten die Geschehnisse des Alten sowie des
Neuen
Testaments, setzten Altertum, Mittelalter und Renaissance in Szene und
schufen damit den Herrschenden des neunzehnten sowie zwanzigsten
Jahrhunderts den Legitimationsrahmen für Machtnahme und Machtsicherung.
Doch die Künstlerschaft befriedigte mit ihren Werken nicht allein die
Herrsch- und Geltungssucht ihrer Auftraggeber. Sie befriedigte auch die
eigene Sehnsucht nach Gerechtigkeit und artikulierte das in den Werken -
insgeheim.
So enthält jedes Bild, das ab dem Altertum bis in den Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts weltgeschichtlich Relevantes protokolliert,
zwei Botschaften: die direkt lesbare der Machthaber sowie die
verschlüsselte der Künstlerschaft.
Die Künstler bedienten sich zum Übermitteln ihrer Botschaften der
Sprache der Astrologie, einer vom Klerus und seinesgleichen eifrig als
Pseudowissenschaft abgestempelten Kunst der Daseinsdeutung.
Der Klerus übersah oder nahm hin, daß er das Kulturgut der Astrologie
zwar aus dem öffentlichen Raum, nicht aber aus den Köpfen verbannen
konnte.
Dies, aber mehr noch die Tatsache, daß die Künstlerschaft in ihren
Werken die Sprache der Astrologie insgeheim weiter pflegt und zum
Übermitteln eigener Botschaften nutzt, wirft die Frage auf: Warum all
das?
Die offizielle Geschichtsschreibung gibt darauf keine Antwort.
Kein Wunder. Die offizielle Geschichtsschreibung ist die
Geschichtsschreibung des Offiziums. Die schreibt, was sein soll, nicht,
was ist.
Bleibt die in den Werken der Künstlerschaft enthaltene alternative
Geschichtsschreibung. Und die teilt mit: Der Klerus war Repräsentant
einer neu formulierten Religion, die gegen eine alte Religion und deren
Repräsentanten durchgesetzt werden mußte.
Der Klerus war offenbar so neu, daß er keine Ahnung vom unsichtbaren
Zusammenspiel der vormaligen Herrscher und der Künstlerschaft hatte. Er
glaubte mit dem Kaltstellen und Vernichten der vormaligen Herrscher
neuer Herrscher zu sein. Und übernahm mangels Alternative und Wissen für
das Darstellen der neuen Religion die alte Künstlerschaft. Das war für
den Klerus ein gravierender Fehler.
Denn damit entstand vor allem während des neunzehnten Jahrhunderts eine
Delikatesse des Kunstschaffens, die zum einen dem Auftrag des Klerus
gerecht wird, im Geschichtswissen des Betrachters die zentralen, in
Bilder gefaßten Botschaften der neuen Religion, ihrer Träger und
Beschützer zu verankern, und die zum anderen mittels der von der
Künstlerschaft gehandhabten
Exklusivsprache die Ansicht der Künstlerschaft über das Dargestellte
wiedergibt.
Die größte Empörung der Künstler galt offenbar dem Versuch der Kleriker,
die neue Religion als etwas Überkommenes, als bereits ewig Gültiges
darzustellen. Die beste Waffe, dies zu widerlegen, war die bereits von
Astrologen und Astronomen benutzte Darstellung von Zeit - eine Uhr. Eine
simple Uhr. Allerdings nicht mit zwei Zeigern, sondern mit zwölf - für
Sonne, Mond und die anderen am Himmel wandernden Erscheinungen, die man
Planeten nennt. Einigt man sich darauf, diese Planetenuhr an einem
bestimmten Tag des Jahres abzulesen - etwa am Beginn des 1. September,
ab der Position von Ein-Uhr, im Uhrzeigersinn - und dies für alle
anderen Jahre beizubehalten, dann hat man eine Uhr, mit der man Jahre
bezeichnen und von einander unterscheiden kann.
Wozu denn das? Es gibt doch schon einen Kalender, der funktioniert. Auf
dem gibt es das Jahr 2010 oder das Jahr 1881 oder das Jahr sonstwas.
Kann man schön rauf und runter zählen und auseinanderhalten. Wozu also
eine Planetenuhr?
Weil der Kalender mit dem als Beispiel genannten Jahr 2010 ein
personengebundener Kalender ist, ein christlicher, der auf die Geburt
Jesu Bezug nimmt. Also ein sehr persönlicher Kalender, der ohne Jesus
keinen Anfang mehr hat - was fängt ein Skeptiker damit dann an?
Die Planetenuhr hingegen und der auf sie bauende Kalender funktionieren
personen-ungebunden, ohne Anfang, ohne Ende, mit untrüglicher Präzision,
egal auch, wer wo wann regiert.
Eicht man sie auch geografisch,
beispielsweise auf Paris, kann man auf solchen Daten einen Kalender
aufbauen, der - in Gemälde oder Zeichnungen eingebracht, beispielsweise
in Melencolia - das Wahre von der Lüge zu trennen
ermöglicht.
Genau das geschieht. Doch damit nicht
genug. Statt Planetennamen zu verwenden - man denke an
unterschiedliche Schreibweisen oder
verschiedene Sprachen und damit mögliche Mißverständnisse und
Fehler - übersetzt man diese in die Zahlen Null bis Neun und
gestaltet den Umgang mit diesem Kalender weit leichter,
wirtschaftlicher und sicherer.
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Das Übersetzen der Planetennamen in Zahlen ermöglicht, und das ist der
entscheidende Vorteil für die Künstlerschaft, genau jene
Tabellen aufzubauen, mit denen die auf Geheiß des Klerus angelegte
Bildergalerie der Weltgeschichte zerlegt und die Puzzle der dort
dokumentierten Ereignisse wieder der richtigen Zeit und dem wahren
Zeitpunkt zugeordnet werden können.
Damit zurück zum 19. Jahrhundert und zu der in jener Zeit
entstehenden Delikatesse des Kunstschaffens.
Der Klerus ging davon aus, daß die bilderschaffenden Künstler
die erteilten Aufträge zum Aufbau einer in Altertum, Mittelalter
und Renaissance gegliederten und vom Klerus steuernd begleiteten
Vergangenheit weisungsgemäß ausführten - ohne Murren und
erkennbaren Widerstand.
Das geschah tatsächlich. Ohne Murren und erkennbaren Widerstand.
Mit durchweg den Klerus freudig stimmenden Ergebnissen. Doch die
Kleriker freuten sich zu früh. In jedem gemalten und
gezeichneten Auftragsbild steckt die Planetenuhr und weist
unbarmherzig auf die Wahrheit hin.
Das kolossal Tausendjährige, ach was, das bald
Zweitausendjährige der bei den Künstlern in Auftrag gegebenen
Vergangenheitsschau scheitert in den Werken - dank der
Planetenuhr - Bild für Bild. Der Künstler namens
Dürer geht beim Aufdecken der Vergangenheitslüge besonders
eifrig zu Werke.
Hinweggefegt wird auch die Datierung des
Claudius Ptolemaeus, der um 180 nach Christus den Almagest,
das 13-bändige Standardwerk der Astronomie verfaßt haben soll.
Die Komposition des Ptolemaeus-Bildes muß dem unbekannten
Künstler ein Fest gewesen sein.
Zentrale Figur der neuen Religion, die die Kleriker zu Anfang
des 19. Jahrhunderts mit allen Mitteln zu etablieren versuchen,
ist der Erlöser, eine Männergestalt. Sie zu malen, zu zeichnen,
zu modellieren ist für Künstler von Rang wohl ein Muß. Wer
langfristig lukrative Aufträge bekommen will, kann diese
offenbar erst dann ins Auge fassen, wenn er eine
Kreuzigungsszene abgeliefert hat. Was wunder, wenn es solche
Werke zuhauf gibt - alle mit Planetenuhr.
Was aus dem Gekreuzigten wird, wenn man diese Uhr liest,
verblüfft:
Der Gekreuzigte ist durchweg eine Frau.
Jesus eine Frau! Ein Geheimnis? Ein Wunder?
Keineswegs. Offiziell sollte er ein Mann sein. Genau gesagt, der
Mann, den der Mächtigste dieser Welt, der gottgleiche Süleyman,
liebte wie seinen eigenen Sohn. Süleyman machte ihn zu seinem
Wesir, zu seinem Regierenden und wollte ihn offenbar mit seiner
Schwester Mariamme vermählen. Doch vom letzten Eroberungszug
kehrte jener so mächtig zurück, daß Süleyman um seine eigene
Macht fürchten mußte.
Für den gewaltorientierten Süleyman besonders gefährlich war,
daß sein einst engster, sohngleicher Freund, dieser Christus,
zur Ausübung seiner Macht der Gewalt entsagte und auf
Verständigung, auf Ausgleich, auf eine Politik der offenen Tür
setzte. Bei Verhandlungspartnern kam das an. Man wandte sich
immer mehr diesem wahrhaft Regierenden zu und immer mehr von
Süleyman ab.
Wer aber war dieser immer beliebter werdende Fürst?
Er ist der Mann, den die Künstler
in Abendmahlszenen als Christus
darstellen. Er ist der Eroberer und Vereiniger der westlichen Welt,
einem Augustus gleich und von Leutze als Kolumbus gemalt. In Dürers
Abendmahlszenen von
1510 und 1523 hält er
Mariamme im Arm - unter dem
scharfen und mißtrauischen Blick der mächtigsten
Frau Nordamerikas.
Dürer hat sie an den linken Bildrand plaziert. Der Eroberer, der
Kolumbus, vereinte sich in Nordamerika mit ihr - eine mächtige
Verbindung schien zu entstehen - und brachte sie samt
gemeinsamer Tochter nach Europa.
Offenbar schaffte er damit eine heikle Situation. Vielleicht verletzte
er die
Gefühle der Mariamme. Gewiß aber warf er mit den neuen Angehörigen
etliche
Fragen des künftigen Herrschens auf.
Mariamme, die Schwester Süleymans, des Herrschers über Osteuropa und
den Orient, gab sich mit der neuen Situation nicht ab. Sie handelte - um
ihrer
Zukunft willen. Indem sie sich vom Eroberer schwängern ließ, sicherte
sie den
Anspruch auf sein Erbe. Indem sie ihrem Bruder einen Wink gab, einen
verräterischen Wink, erhärtete sie diesen Anspruch:
Süleyman ließ den
Eroberer, Kolumbus und einstigen Freund - nein, nicht kreuzigen, er ließ
ihn erdrosseln.
Der großen, jetzt führungslosen Gemeinde des Ermordeten wollten
Süleyman und seine Schwester ein unmißverständliches Zeichen
setzen:
das Bild des
Gekreuzigten. Doch dazu kam es zunächst nicht. Die vom ermordeten
Friedensfürsten geformten Ansätze einer bildungsorientierten
zivilisierten
Gesellschaft waren offenbar soweit gediehen, daß das Führungspersonal
offen
gegen die von Süleyman angedrohte Machtübernahme Stellung bezog.
Man
wollte nicht unter das Kreuz.
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Es folgten Geschehnisse, die die Geschichtsschreibung des Offiziums zwar
protokollierte, aber auf dem Zeitstrahl christlicher
Geschichtsschreibung
anderen Epochen zuordnete, etikettiert mit Begriffen wie
Religionskriege,
Kreuzzüge, Bartholomäusnacht, Französische Revolution und
dergleichen.
Im Bild festgehalten hat diese Alptraum-Geschehnisse unter anderem
Pieter
Brueghel, der Ältere. Das Bild trägt den Titel "Triumph des Todes".
Die Vermutung, dieses Bild sei frühestens 1860 entstanden, kann man
präzisieren. Das Bild muß nach 1863 entstanden sein, denn in der
vorderen
Bildmitte liegt Mariamme im offenen Sarg. Der Tod
Mariammes aber wird von den Künstlern auf 1863 datiert.
Zurück zu den Geschehnissen in den ersten Jahren nach dem Tod des
Friedensfürsten.
Das Schicksal der Mariamme-Konkurrentin, der nordamerikanischen
Herrscherin, vermutlich einer Eingeborenen vom Stammesverbund der
Shawnee, muß noch recherchiert werden. Das Schicksal ihrer Tochter ist
bekannt. Mariamme kerkerte sie anfangs ein und ließ sie schließlich frei
-
gegen Verzicht auf des Vaters Erbe und gegen eine Art Lösegeld: Ihre
Angehörigen mußten Mexiko an Mariamme abtreten.
Offenbar hielt sich die Freigelassene noch einige Zeit in Paris auf,
genug Zeit
jedenfalls, um als prominente Zwölf- bis Dreizehnjährige mit
Religionswissen
aus der Shawnee-Quelle (spricht da der junge Jesus?) die Stiefmutter
Mariamme so zu ärgern, daß diese sie nach Nordamerika zurückbringen
ließ.
Das war ein Fehler. Denn die Tochter des Friedensfürsten führte dort die
Politik ihres Vaters weiter, betrieb die
Einigung der Indianerstämme und
zeigte
Mariamme, die mit Gewalt das Erbe des Friedensfürsten erlangen wollte,
die
Stirn. In der offiziellen Weltgeschichte heißt es, ein
Tecumseh habe die
Indianerstämme zu einen versucht. Tecumseh war eine Frau - die
Tochter
des
Friedensfürsten.
Was Tecumseh in Nordamerika veranstaltete, gefährdete Mariammes Ziel,
das
Erbe des Friedensfürsten anzutreten und womöglich über dieses Erbe
hinaus,
über
Neufrankreich hinaus, sich die Schätze Nordamerikas zumindest
teilweise zu sichern.
Die "offizielle" Geschichte der vereinigten Staaten von Nordamerika
vernebelt
Mariammes Wirken beträchtlich. Allein - die Künstlerschaft folgt auch
hier nicht
dem Offizium und präsentiert in den für Nordamerika so typischen
Gazetten-Illustrationen ihre eigene Sicht der Ereignisse. Derzufolge
gelang es
Mariamme, ihre Gegnerin Tecumseh zu stellen und aus der Welt zu
schaffen.
Das Kostüm, in das sie hierzu schlüpfte, war das des
Generals und
späteren
US-Präsidenten William Henry Harrison. Er soll Nordamerikas neunter
Präsident gewesen sein. Allerdings für nur vier Wochen, nach denen er
einer
Lungenentzündung erlag.
Mariamme, das Ausnahmetalent, die waghalsige
Reiterin und unerschrockene
Kämpferin, schlüpfte nicht nur in die Kleidung nordamerikanischer
Generäle
und Präsidenten (Washington sowie Harrison gewiß; ob Mariammes
Nachkommen sich als US-Präsident Grant oder als Lincolns Frau
kostümierten, muß noch untersucht werden), sondern auch ins kostbare
Textil
der Päpste, wie Maler David im
Krönungsbild des Napoleon zeigt.
Zurück ins alte Europa.
Mariamme gebar 1790 Zwillinge, ein
Mädchen und einen Jungen. Das
Mädchen wurde offizielle Thronfolgerin. Mariamme wies ihr die Rolle
einer
Kämpferin zu, einer Kämpferin für die neue Religion, der zufolge der
Vater des
Mädchens der Erlöser war und durch Verrat ans Kreuz kam. Die Tochter
(vom
Klerus als
Jeanne d'Arc protokolliert, von Antiklerikalen als
Marat),
verinnerlichte diese Rolle so sehr, daß sie ihrer Mutter Mariamme
gefährlich
wurde und deshalb - zu Tode kam.
Unbehelligt blieb offenbar allein
Mariammes Sohn. Er muß ein exzellenter
Organisator gewesen sein, vom Offizium der Nachwelt als Kardinal
Richelieu
sowie als Generalabt von Cluny, Cîteau und Prémontré überliefert, und gewiß eine
unentbehrliche Stütze für seine Mutter. Denn er war auch ihr
Loyola (Vorname Ignatius) ihr Bayazu,
mit dessen Hilfe der Aufbau einer Organisation gelang, die im
Zeichen
JHS, im Zeichen der Gestirne zu Zeiten der Geburt von
Mariammes Zwillingen, die Religio der
Herrschenden erzwang. Sichtbares Zeichen ihres allumfassenden
Gewaltanspruchs war das Kreuz.
Dennoch: Süleyman, Mariamme und ihrem Sohn
gelang es nicht, unter dem Kreuz ein
Großreich zu schaffen. Offenbar maßgeblichen Anteil am Scheitern dieses
Vorhabens hatte Mariammes Stieftochter, die mit Hilfe der Briten in
Nordamerika die Raserei der skrupellos waltenden Mariamme eindämmte - zu
einem hohen Preis: Tecumseh ließ ihr Leben, ihr Volk wurde zerrieben.
Die Künstlerschaft setzte ihr das
Denkmal im
Bild des Gekreuzigten. |